Was zum Grundkurs für Schüler im Sozialkunde-Unterricht gehört, hatte die CDU/SPD-Koalition in der vergangenen Legislaturperiode wohl weitgehend
verdrängt, als sie mit ihrer Mehrheit die Parlamentsunwürdigkeit der PDS-Abgeordneten Almuth Beck und damit ihren Rausschmiss aus dem Thüringer Landtag beschlossen – ein bundesweit einmaliges Vorgehen.
So gab es ein
herbes Erwachen bei den Urteilen zu den Klagen der PDS-Fraktion und Almuth Becks, die die neun Weimarer Verfassungsrichter am 26. Mai einstimmig gefasst hatten:Aus für den Paragraphen 8
Aus der Presseinformation des Weimarer Verfassungsgerichtshofs:
“Die Thüringer Regelung über den Verlust des Abgeordnetenmandats infolge wissentlicher Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ist
verfassungswidrig. Damit ist dem Beschluss des Thüringer Landtags über den Mandatsverlust der ehemaligen PDS-Abgeordneten Almuth Beck die Grundlage entzogen. Deswegen musste der Verfassungsgerichtshof auch ihrem Antrag
gegen den entsprechenden Mandatsverlustbeschluss des Thüringer Landtags schon deshalb stattgeben. Da es dabei weder auf die Frage ankam, ob das Verfahren der Mandatsaberkennung ordnungsgemäß durchgeführt worden ist,
noch darauf, ob die gegen Frau Beck erhobenen Vorwürfe einer wissentlichen Zusammenarbeit mit dem MfS als inoffizieller Mitarbeiter gerechtfertigt sind, waren dem Verfassungsgerichtshof entsprechende Prüfungen verwehrt.
In dem Normenkontrollverfahren hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof festgestellt, dass die in § 8 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz enthaltene Regelung, wonach der Landtagsabgeordnete durch
Parlamentsbeschluss sein Mandat verliert, wenn der Abgeordnete zur gesicherten Überzeugung des Landtags wissentlich als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter mit dem MfS/AfNS zusammengearbeitet hat und deshalb
unwürdig ist, dem Landtag anzugehören, der Thüringer Verfassung widerspricht.
Der durch die Wahl erworbene Status eines Abgeordneten endet nur aus den Tatbeständen, die in der Thüringer Verfassung ausdrücklich
genannt werden oder die von ihr zugelassen werden. Dies ist nicht der Fall bei einem der Wahl vorausliegenden Verhalten, das - wie eine Tätigkeit für das MfS/AfNS - möglicherweise moralisch und politisch verwerflich,
nicht jedoch strafrechtlich sanktioniert ist. Der in einer Zeit des gesellschaftlich-politischen Umbruchs grundsätzlich zulässige Entzug des Mandats hätte nur aufgrund einer Regelung in der Thüringer Verfassung erfolgen
können. Da eine solche - anders als in der Sächsischen Verfassung - fehlt, wäre Voraussetzung für den Erlass der angegriffenen Norm eine Verfassungsänderung nach Art. 83 der Thüringer Verfassung. Dies ist nicht
geschehen.”
“Recht für Andersdenkende”
Eine klare Entscheidung in der Sache also, die trotz oder gerade wegen ihrer Logik im Thüringer Blätterwald zu grundsätzlichen rechtsstaatlichen Erörterungen führte:
“Ein frei vom Volk gewähltes Abgeordnetenmandat darf in der Demokratie selbst dann nicht vom Tisch gewischt werden, wenn klare Mehrheiten es gern möchten” (Ostthüringer Zeitung)
“In einem Rechtsstaat kann auch der
Andersdenkende Recht bekommen” (Thüringer Allgemeine).
“Nicht Volksvertreter haben darüber zu befinden, ob jemand Volksvertreter sein darf, sondern die Wähler. Die Immunität eines Parlamentariers bleibt demnach
geschützt, solange der Justiz kein konkreter Strafbestand vorliegt.” (Mitteldeutsche Zeitung)
“Vielmehr ist der Richterspruch geeignet, Vertrauen zu schaffen in die Institutionen eines Gemeinwesens, das Macht nicht
als Allmacht vergibt”. (OTZ)
“Freibrief für Spitzel”
Die Enttäuschung über das Weimarer Urteil war freilich bei jenen, die die verworfene Regelung zu verantworten hatten, groß. Dabei ließen sie nicht mal den
Ansatz einer Nachdenklichkeit erkennen:
Die Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht bedauerte, dass es dem Landtag damit ohne verfassungsrechtliche Not erschwert werde, “das Erbe der SED-Diktatur mit der
gebotenen Konsequenz aufzuarbeiten. (...) Das Urteil könnte als Freibrief für jene missverstanden werden, die sich durch Spitzeldienste an der Unterdrückung von Menschen beteiligt haben.”
Der CDU-Fraktionschef Dieter
Althaus meinte, das Urteil wirke so, “dass jemand, der seine Stasi-Mitarbeit verschweigt, nicht mit Konsequenzen rechnen muss”. Er sprach außerdem von einer “politischen Verwerfung”, denn der Landtag habe mit großer
Mehrheit für den Mandatsentzug gestimmt.
Der SPD-Fraktionsvize Günter Pohl erklärte: “Eine Aberkennung des Landtagsmandats wegen Stasi-Mitarbeit halten wir nach wie vor für moralisch gerechtfertigt. Abgeordnete haben
schließlich eine besondere Verpflichtung gegenüber den Bürgern.”
Nach Angaben des Thüringer Justizministers Andreas Birkmann entspreche die Entscheidung nicht dem Rechtsempfinden der Menschen in den neuen Ländern. Sie
müsse wie eine nachträgliche gerichtliche Legitimierung für ein Unrechtssystem wirken. Und von Ministerpräsident Bernhard Vogel hieß es, damit werde eine Entscheidung des Parlaments nicht gewürdigt.